In seinem Beitrag schildert Prof. Dr. Ingo Markgraf den zunächst ganz richtigen Befund, dass gesellschaftliche Veränderungen quasi im Gepäck junger, neuer Mitarbeiter von außen in Unternehmen hineingetragen werden. Aufgewachsen mit der schnellen, hochresponsiven Wirklichkeit sozialer Medien seien diese an eine ganz neue, schnellere und vor allem völlig unbürokratische und machtfreie Art des Dialoges gewohnt.
Alte Formen der hierarchischen Kommunikation werden als Machtinstrument benutzt
In den Unternehmen träfen sie jedoch auf die alte tradierte Form hierarchischer Kommunikation, auf Führungskräfte, die „Information“ nicht nur nicht teilen, sondern als Machtinstrument benutzen, und sich gleichsam im Gegenzug „über renitente Mitarbeiter ärgern“. Markgraf fällt zunächst gar nicht auf, dass dadurch ein gänzlich neues soziales System entsteht – vielleicht sogar ein äußerst interessantes, die sich erst in solchen Widerständigkeiten zeigt.
Markgraf prognostiziert, dass sich Mitarbeiter im Extremfall einfach abwenden und kündigen. Damit freilich erstirbt das soziale System „neuer Mitarbeiter – altes Unternehmen“.
Als Ausweg empfiehlt er ein neues Führungsmodell. In Anlehnung an die Wohlbefindenslehre von Aaron Antonovsky berücksichtige er diese bestimmten Erwartungshaltungen an das Kommunikationsverhalten. Sie umfassen auf Seiten der Mitarbeiter bedürfnisgeleitete Aspekte hinsichtlich Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Information, die Führungskräfte ausgeben. Die Beachtung dieser Aspekte diene der Wertschätzung und dem Respekt, dem das Unternehmen Mitarbeitern gleichsam schulde – andernfalls seien diese nicht zu halten.
Die digitale Transformation zieht eine Kulturveränderung in der Gesellschaft nach sich
Was war nochmal das Problem? Die digitale Transformation zieht eine Kulturveränderung in der Gesellschaft nach sich. Soweit richtig. Das ist etwas, was wir beobachten können. Das beobachten und „spüren“ auch Unternehmen, in denen sich je spezifische Unternehmenskulturen ausgebildet haben. Und sie spüren es umso deutlicher, je weniger vereinbar die kulturbedingten Verhaltenserwartungen zu sein scheinen. Markgraf stellt die „Renitenz“ der Mitarbeiter den „Ärger der Führungskräfte“ gegenüber.
Aber das ist nicht das Problem. Das Problem sind auch nicht die missachteten „Bedürfnisse“ von Menschen, denn ein Unternehmen besteht als Organisation nicht aus Menschen (samt ihrer Dispositionen), sondern Menschen sind als solche der Organisationsstruktur nur Umfeld, sozusagen „Resonanzkörper“ der Struktur. Das bedeutet, dass das Unternehmen ihre eigene Kultur ausbildet und quasi „erlernt“.
Respekt und Wertschätzung werden möglich, wenn sich Menschen auf Augenhöhe begegnen können
Das Problem ist, dass eine Struktur, die auf formale Hierarchie aufbaut – Führung hier, Mitarbeit dort – nicht lernt. Es resoniert eben immer die so kommunizierte Macht. Eine Führungskraft kann sich unter solchen Bedingungen noch so sehr um „Verstehbarkeit“ (was immer das ist), um Vermittlung (geht das?) von Sinn bemühen und noch so oft in die Produktion, ins Lager oder in die Kantine gehen, sie wird dort als Führungskraft dem Mitarbeiter gegenübertreten und die Kommunikation entsprechend prägen. Das Unternehmen wird nicht besser oder attraktiver, indem Führungskräften Methoden der Respektdarstellung oder gar einer notwendig geheuchelten „Wertschätzung“, so sie nicht mindestens vorhanden ist, anempfohlen wird. Das dürfte nach hinten losgehen. Respekt und Wertschätzung werden möglich, wenn sich Menschen auf Augenhöhe begegnen können. Erst dann können informelle Beziehungen entstehen, die mitunter hierarchisch wirken, dann aber in gelingender Weise. Diese Hierarchie basiert dann jedoch auf je situativer Anerkennung von wiederum je situativer Kompetenz. Ich kann nicht steuern, Mitarbeiter zu halten. Unternehmen, die in diesen Zeiten bestehen wollen, versorgen sie einfach mit ihren Kunden- oder Marktproblemen und helfen ihnen, sie zu lösen. Das ist die höchste Wert-Schätzung, die ein Mitarbeiter als Mit-Arbeiter erfahren kann.
Kultur lässt sich nicht verändern, sie folgt einfach den wahrscheinlichsten Kommunikationsakten
Formale Hierarchie macht bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher als andere. In einem inzwischen eingeübten gesellschaftlichen System schneller, vollkommen barrierefreier, bisweilen völlig anonymer Kommunikationskultur ist Macht kein Medium mehr. Sie ist verschwunden. Man kann ihr daher keine Verhaltensänderung mehr anempfehlen. Kultur lässt sich nicht verändern, sie folgt einfach den wahrscheinlichsten Kommunikationsakten.
Der Hauptkritikpunkt an Markgrafs Beitrag ist jedoch, dass ihm (schon mit Antonovsky) ein logischer Fehler unterläuft: Kein empirischer Befund liefert per se eine Verhaltensnorm. Dass speziell aus seinem Befund keine kluge Handlungsanweisung folgen kann, sollte mit dem Obigen gezeigt sein.
Eine Replik auf: „Digitalisierung: Das müssen deutsche Unternehmen tun, um gute Mitarbeiter zu halten“ von Prof. Dr. Ingo Markgraf, Business Insider.de v. 30.08.2016
Ein anderer "Extremfall" neben Abwenden und Kündigung ist:
Mitarbeiter nehmen die nötigen Veränderungen einfach selbst in die Hand und übergehen beratungsresistente Führungskräfte.