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Mythos Agile

Mythos Agile
Mythos Agile

Wenige Begriffe geistern aktuell so schillernd durch die Wirtschaftspresse, Konferenzprogramme und Konzernzentralen, wie das Wörtchen Agile. Die Diskussionen um dieses Schlagwort erinnern an jene Debatten, die seit geraumer Zeit zum Thema New Work geführt werden. Aktuell besteht die Gefahr, dass gute und über Jahre erprobte Ideen im Zuge der massiven öffentlichen Rezeption verwässert werden und zur Marketing-Groteske verkommen.

Wie ist das gemeint? Als Berater unterstütze ich Unternehmen dabei, agile Organisationsprinzipien zu verstehen und zu kultivieren. Jüngst erhielt ich wieder eine Anfrage aus einem Konzern, um dort "Agile einzuführen". Angesprochen auf die Motivation und das Ziel, folgte der lapidare Verweis auf den allgemeinen Trend in der Branche: "Wir müssen agiler werden, sonst verlieren wir den Anschluss". Nach weiteren intensiven Vorgesprächen wurde deutlich, dass das Thema Agilität nicht verstanden wurde und einseitig in Richtung der Mitarbeiter delegiert werden sollte. Kurzer Workshop und alle sind agil. Keinerlei Veränderung an der Organisationsstruktur. Keine Neubetrachtung von Führung und Zusammenarbeit. Agilität als Dogma, das per Dekret eingeführt wird. An dieser Vorgabe sollte sich auch nichts ändern. Ich habe den Auftrag nicht angenommen.

Denn Agile ist zuallererst eine Haltung, die auf konkreten Werten und Prinzipien basiert. Dieses Verständnis beim Kunden zu entwickeln, macht den wichtigsten Teil des eigentlichen Beratungsbedarfs aus. Immerhin geht es um die Vermittlung eines anderen Paradigmas: Auf der einen Seite die tayloristisch geprägte Managementlehre von Planung, Weisung und Kontrolle, auf der anderen Seite der menschenzentrierte Anspruch an Selbstverantwortung und Potenzialentfaltung. Die Unterschiede sind enorm.

Agile ist nicht nur für die IT von Relevanz

In meinen Gespräch höre ich oft die Annahme, dass Agile nur in der IT funktionieren würde. Doch entgegen der landläufigen Meinung, stammen die ersten agilen Methoden nicht aus der IT. Unter dem Namen Kanban wurde z.B. bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts beim japanischen Autobauer Toyota mit einer damals neuen Form der Arbeitsorganisation experimentiert, die mehr Flexibilität in der Produktion ermöglichte und eine höhere Eigenverantwortung der beteiligten Menschen adressierte.

Die IT-Branche war letztlich nurmehr jenes Biotop, in der die Ideen hinter dem, was wir heute unter agilen Methoden verstehen, in den letzten anderthalb Jahrzehnten einen beachtenswerten Reifegrad erreicht haben. Das führte dazu, dass die Kultur agiler IT-Unternehmen für viele Menschen aus klassischen Organisationen auf den ersten Blick ungewohnt bis inkompatibel erscheint. Immer wieder höre ich Aussagen, dass diese Form der Zusammenarbeit im eigenen Unternehmen nicht funktionieren würde, da die Herausforderungen andere wären als in der IT. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass die meisten IT-Unternehmen die Adaption agiler Prinzipien auch erst lernen mussten.

Konzerne wollen agiler werden

Eine zunehmende Anzahl deutscher Konzerne setzt in diesen Tagen auf Transformation. Das hat nicht nur mit den wachsenden Software-Entwicklungsabteilungen zu tun, sondern hängt auch mit der Marktdynamik im Zuge der Digitalisierung zusammen. Denn Innovation und Disruption findet längst vor den eigenen Werkshallen statt. Was kann ein deutscher Industriegigant aufwarten, wenn kleine Startups innerhalb kürzester Zeit Prototyp um Prototyp veröffentlichen, und dabei iterativ und nutzerzentriert, schneller als es die meisten Großkonzerne je orchestrieren könnten, respektable und relevante Produkte zur Serienreife bringen? Dann zeigt sich, dass Größe in Zeiten digitaler Wertschöpfung kein natürlicher Vorteil mehr ist; Perfektion ohne kurzen Time-to-Market keinen Vorsprung bringt; Innovation ohne die Befriedigung von Nutzerbedürfnissen kaum Relevanz erzeugt.

Was als Reaktion in vielen Konzernzentralen und Führungszirkeln folgt, ist der panische Blickwechsel in Richtung agiler Methoden. Agilität wird zu einer Art Wundertüte stilisiert, die, einmal geöffnet, alle Probleme lösen soll. Allerdings erfordert ein Paradigmenwechsel wie die Einführung agiler Organisationsprinzipien vor allem Überzeugung, Reife und Zeit. Da lässt sich kaum etwas übers Knie brechen. Am ehesten werden schnelle Erfolge noch in ausgelagerten Einheiten sichtbar, die fernab der Linie und geschützt vor direkter Einflussnahme des Managements aufgebaut werden. Ein Ersatz für eine systemische Neujustierung der Kernorganisation ist das allerdings nicht. Es gibt keine agile Transition nach dem Motto "Wasch mich, aber mach mich nicht nass."

Agilität beruht auf Werten und Prinzipien

Wer sich ernsthaft mit Agilität beschäftigen möchte, sollte sich zuerst mit den Werten beschäftigen, die das Fundament der agilen Prinzipien und Methoden bilden. Es erfordert Anstrengung und Commitment von allen Beteiligten, essentielle Werte wie Offenheit, Vertrauen und Respekt glaubhaft vorzuleben. Denn Werte lassen sich nicht delegieren.

Agile Methoden machen Probleme schnell sichtbar und erlauben es, früher als gewohnt darauf zu reagieren. Das wirkt erst einmal nicht besonders spektakulär und ist auch nicht zwingend verkaufsfördernd. Aus diesem Grund bauschen manche Berater den Begriff der Agilität gern etwas auf. Vollkommen unnötig und selten zielführend. Denn mittelfristig können agile Organisationsmethoden einen regelrechten Rausch entfachen. Nämlich dann, wenn Führung als ein Dienen verstanden wird; wenn Wertschöpfung wieder im Sinne des Kundennutzens stattfindet; wenn Fehler offen thematisiert werden können und Selbstorganisation Teil der DNA eines Unternehmens ist.

Dann fallen nach einiger Zeit Sätze wie "Wie konnten wir vorher nur anders arbeiten?" oder "So wie vor der Transformation möchte ich nie wieder arbeiten!" Natürlich gibt es auch kritische Stimmen und mir fällt auf, dass besonders langjährige Mitarbeiter anfangs Probleme damit haben, wenn nach Jahren des Folgens wichtige Entscheidungen in Eigenverantwortung getroffen und alles offen und transparent im Team besprochen werden soll. Da bleiben Irritationen nicht aus.

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht die Mitarbeiter oder deren Verhaltensweisen das ursächliche Problem sind, wenn über die Einführung agiler Arbeitsweisen nachgedacht wird. Denn die Menschen haben sich über Jahre lediglich angepasst und ihre Arbeit so verrichtet, wie es gemäß der bestehenden formellen und informellen Regeln richtig und erwünscht war. Dass dieses Verhalten bisweilen als Dienst nach Vorschrift verstanden wird, ist lediglich ein Symptom, das aufzeigt, dass etwas mit der Organisation(sweise) nicht stimmte. Über Jahre erschaffene Realitäten werden durch die Einführung agiler Methoden nicht über Nacht verschwinden. Eine Veränderung bestehender Denk- und Handlungsmuster braucht Zutrauen, Sicherheit und Zeit. Werden lediglich alte Formalien durch neue Formalien ausgetauscht, bleibt vieles beim Alten.

Agilität ist mehr als eine Methode

Eine nachhaltige Veränderung beginnt mit der Analyse der bestehenden Organisation, ihren formalen Prozessen, Hierarchien und Berichtswegen, und nicht mit der Delegation von Handlungsanweisungen. Wer neue Wege gehen will, muss ausgetretene Pfade verlassen können dürfen. Dazu gehört auch die Bereitschaft von Führungskräften, Fehler zuzulassen, formale Macht zu teilen und Vertrauen in die Veränderung zu haben. Im überhitzten Tagesgeschäft lässt sich so etwas kaum nachhaltig bewerkstelligen.

Die Begleitung von Veränderungsprozessen durch erfahrene externe Berater zahlt sich genau dann aus, wenn die anfängliche Verunsicherung der Mitarbeiter mittels und professioneller Reflektionsarbeit nachhaltig aufgelöst werden kann. Letztlich bemisst sich der Erfolg von Agilität auch nicht in magischen Buzzwords oder höchster Methodenkompetenz, sondern darin, ob und wie Lösungen gefunden werden.

Agilität ist nicht das Befolgen von Regeln, sondern das Finden guter Lösungen

Ob ein Paradigmenwechsel gelungen ist, zeigt sich weniger in der perfekten Anwendung einer agilen Methode, als in der Art und Weise, wie Lösungen gefunden werden. Auch gibt es keinen definierten Endzustand von Agilität. Am ehesten lässt sich die Agilität einer Organisation daran ermessen, wie gut sie in der Lage ist, sich kontinuierlich und mit geringem Aufwand auf neue Anforderungen einzustellen und Produkte, Dienstleistungen und Services zu kreieren, die echten Mehrwert für die Kunden liefern. Funktionierende Produkte ist das wichtigste Fortschrittsmaß lautet folgerichtig ein wichtiges agiles Prinzip.

Das von proagile.de entwickelte Eisbergmodell der Agilität zeigt deutlich, dass der größte und oftmals wichtigste Teil der Wirkfaktoren für erfolgreiche agile Unternehmen außerhalb des Blickfelds liegt. Gleichzeitig bilden die Werte und Prinzipien die Grundlage für den Erfolg von Methoden, Techniken und Tools.
Agiles Eisbergmodell


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  1. -

    Christian! Ein Artikel, der mir aus dem Herzen spricht. Prima analysiert und dargestellt. Danke dafür.

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